Auch heute noch fühlen sich viele hochsensible Männer im Zwiespalt: muss ich mich dem klassischen Männlichkeitsbild von äußerer Stärke, Macht und Erfolg unterordnen oder kann ich meine sensiblen und empathischen Eigenschaften offen zeigen? Hier gehen wir diesem traditionsreichen Identitätskonflikt auf den Grund und schauen uns die Möglichkeiten an, wie du als Mann deine Hochsensibilität frei ausleben und stärken kannst.

der hochsensible Mann

männlich, sensibel – fehlerhaft?

In der hinteren Ecke findet Paul einen freien Platz. Von hier hat er einen guten Überblick über den gesamten Raum, der sich immer weiter mit den Gästen der Firmenfeier füllt. Paul betrachtet die einzelnen Gäste, wie sie sich begrüßen und angeregt plaudern. In einigen Gesichtern sieht er Müdigkeit oder Angespanntheit. Manche machen hektische Bewegungen oder nesteln nervös an sich herum, während sie so tun, als folgten sie den Gesprächen. Ein wummerndes Raunen erfüllt den Saal, weshalb Paul ganz froh ist, etwas abseits zu stehen. Die Luft ist stickig. Paul öffnet das Fenster hinter sich und saugt den frischen Luftstrom ein. Der Geruch des lauen Sommerabends gibt ihm eine wohlige Ruhe. Mit geschlossenen Augen genießt er diesen Duft.

Ein stechendes Tippen auf seiner Schulter reißt ihn aus dem Moment. »Schau mal, wen ich endlich gefunden habe!«, ruft Pauls Frau in sein Ohr und schiebt seinen Chef neben ihn. Paul versucht, seine Erschrockenheit zu überspielen und lächelt beiden zu, während sein Chef ihn nochmals an das Angebot zur Beförderung erinnert. Den ganzen Tag hatte Paul versucht dieses Thema zu vermeiden. Er erledigt seine Aufgaben extrem gewissenhaft, doch er fühlt sich oft überreizt von den vielen Meetings, die er meist als sinnlose Zeitverschwendung empfindet. Mit der Beförderung würde sich das nur noch weiter verschärfen und eigentlich spürt Paul in sich den Wunsch, weniger zu arbeiten und mehr Zeit für sich und seine Familie zu haben. Also lächelt er nur und nickt freundlich.

Sein Chef wendet sich von ihnen ab und widmet sich dem lautstarken Gespräch einer Gruppe von Pauls Kollegen. Pauls Frau schaut ihn entgeistert an. »Warum sagst du nicht einfach zu? Diese Chance wird sich nicht nochmal ergeben!« Von der anderen Gruppe dröhnt schallendes Gelächter an Pauls Ohren. Seine Frau blickt zur Gruppe und wieder zu ihm. Paul weiß genau, was sie jetzt denkt: »Warum steht mein Mann bei jeder Party bloß still in der Ecke, während seine Kollegen die Initiative ergreifen und sich ins Zeug legen?« Doch er konnte mit diesem Konkurrenz- und Wettkampfgehabe noch nie etwas anfangen und eigentlich hätte er heute lieber in Ruhe den schönen Sommerabend genossen. Was lief denn nur falsch mit ihm?

Wann ist man ein (hochsensibler) Mann?

Die Kombination »männlich und hochsensibel«, welche Männer wie Paul in sich vereinen, bringt einige tiefgreifende Konflikte mit sich. Denn das Phänomen Hochsensibilität wird bis heute hauptsächlich Frauen zugeschrieben. Um das zu verstehen, brauchen wir uns nur die typischen hochsensiblen Wesensmerkmale anzuschauen, wie Empathie, sinnliche Sensitivität oder emotionale Tiefgründigkeit. Solche Eigenschaften gelten traditionell als weibliche Wesenszüge und werden bei Frauen auch positiv gewertet, aufgrund des tradierten Frauenbildes als fürsorgliche Mutter oder Ehefrau. Auch wenn diese Rollenbilder zum Glück langsam aufweichen, erfahren hochsensible Männer immer wieder Irritationen bis hin zu Ablehnung, wenn sie ihre Sensibilität offen zeigen.

Gerade eine hohe Empfindsamkeit widerspricht dem klassischen Bild des männlichen Ideals, das sich aus »harten Werten« speist, wie körperlicher Stärke, pragmatischer Vernunft, Willenskraft, Macht und Erfolg. Die erlebte Ausgrenzung entsteht für sensible Männer immer dann, wenn sie in Situationen nicht »typisch männlich« agieren, sondern feinfühlig, emotional und empathisch. Denn besonders unter Männern werden diese sensiblen Eigenschaften noch immer als Schwäche angesehen, und nicht als wertvolle zwischenmenschliche Fähigkeiten. Besonders im Berufsleben gilt dieses »harte männliche« Vorgehen vielerorts noch immer als Voraussetzung, um Karriere zu machen.

Hochsensible Männer im Identitätskonflikt

Das kann insbesondere hochsensible Männer vor enorme identitäre Probleme stellen und einen starken Leidensdruck erzeugen. Im Grunde aber wirkt dieser Konflikt in allen Männern, wie der Psychoanalytiker Arno Gruen in seinem Buch »Der Verrat am Selbst« sehr eindrücklich beschreibt. Denn natürlich sind wir alle emotionale und sensible Wesen und die Forderung diesen Anteil nicht auszuleben löst immer einen inneren Konflikt aus. Nach Gruens langjährigen Untersuchungen entsteht dieser Konflikt bei vielen Männern bereits im sehr jungen Alter, wenn diese männlichen Stereotype anerzogen werden. Sprüche wie »Jungs weinen nicht« oder »Sei so stark wie ein Mann« können dann zu tief sitzenden Glaubenssätzen werden und bringen hochsensible Jungen in ein identitäres Dilemma, dass mit ihnen etwas grundsätzlich nicht stimme und sie sich gefälligst anpassen müssen.

So lernen viele Jungen früh, dass sie ihre empfindsamen und emotionalen Anteile von sich abspalten müssen, um dazuzugehören und als »ganzer Mann« zu gelten. Der innere Konflikt wird so zu einer ständigen und leidvollen Zerreißprobe. Laut Arno Gruen liegt die negative Bewertung sensibler Eigenschaften bei Männern in den gesellschaftlichen Normen begründet: »Leider zählt innerhalb unseres konventionellen Werte- und Normensystems nicht, wer wir in unseren Gefühlen sind, sondern lediglich das, was wir auf ‚erfolgreichen’ Laufbahnen erreichen. Danach werden wir gemessen; danach beurteilen wir uns auch selbst. Erfolg ist der Maßstab, an dem der Mann gemessen wird, nicht seine Fähigkeit zu lachen, zu spielen oder zärtlich zu sein.«

der hochsensible Mann

Hochsensibilität bei Männern positiv besetzen

Als Gruen dies in den achtziger Jahren schrieb, gab es den Begriff der Hochsensibilität noch nicht. Erst in den Neunzigern prägte Elaine Aron das Verständnis für die hochsensiblen Eigenschaften, und erst vor wenigen Jahren veröffentlichte der Psychotherapeut Tom Falkenstein ein fundiertes Buch zum Thema hochsensible Männer und den damit einhergehenden Problemen. Auch er entdeckte eine generelle »Männlichkeitskrise«, die alle Männer vor große psychologische Probleme stellen kann, wenn sie sich ihren sensiblen und empathischen Eigenschaften verschließen, um dem männlichen Ideal zu entsprechen. Mit teils dramatischen Folgen, wie eine erhöhte Suizidrate oder häufigeren Suchterkrankungen als bei Frauen.

Umso wichtiger ist es für Falkenstein, dass Männer allgemein lernen ihre hochsensible Eigenschaften positiv zu bewerten, um Männlichkeit und Sensibilität zu einem authentischen Selbstbild zu vereinen. Besonders für hochsensible Männer bedeutet das, ihre anerzogene Scham vor der eigenen Hochsensibilität abzulegen und ihre feinfühligen Wesensmerkmale anzunehmen. Doch wie kann das gelingen?

Was tun als hochsensibler Mann?

Wenn du als hochsensibler Mann bei dir diese inneren Konflikte bemerkst, ist das bereits der erste hilfreiche Schritt, um bewusster mit deinen eigenen sensiblen Wesenszügen umzugehen. Von diesem Punkt aus möchte ich dir einige gute Möglichkeiten aufzeigen, die mir selbst weitergeholfen haben und die auch meine Klienten auf ihrem Weg unterstützen, ihre Hochsensibilität als wertvolle Ressource anzunehmen und zu stärken:

  • Kritische Reflexion zulassen: Die negativen Bewertungen der Sensibilität und Empathie als »unmännlich« wurden und werden von außen an dich herangetragen, vielleicht durch deine Eltern, die Schule, Kollegen oder Freunde. Sie sagen nichts über dich als Person oder den Wert dieser Wesenseigenschaften aus, sondern sind gesellschaftliche Konstrukte von Rollenklischees. Diese darfst du kritisch hinterfragen und kannst dadurch deine Bewertungen dir selbst gegenüber verändern.
  • Akzeptanz der hochsensiblen Eigenschaften erlauben: Im nächsten Schritt kannst du dir selbst gestatten, dich so anzunehmen, wie du bist. Du darfst dich diesem Druck von außen gern entziehen und deinen eigenen Wert erkennen. Natürlich braucht das etwas Zeit und Übung, weshalb wir direkt zum nächsten Punkt kommen.
  • Achtsamkeit etablieren: Wenn du regelmäßig in dich hinein horchst, wie es dir in bestimmten Situationen oder mit den Menschen um dich geht, dann kannst du immer besser spüren, wenn etwas deinen Bedürfnissen und Wesenszügen zuwider läuft. Die Maxime hier lautet: Sei ehrlich mit dir selbst. Dadurch erkennst du auch die negativen Glaubenssätze zu deiner hochsensiblen Art, die in dir wirken. Gleichzeitig entdeckst du, was sich richtig und authentisch anfühlt.
  • Selbstsorge aufbauen: Durch die achtsamen Momente weißt du immer besser, was gut für dich ist und kannst deine Handlungen und Entscheidungen danach ausrichten. Sei für dich selbst ein guter Freund. Damit beugst du vor allem der hochsensiblen Überreizung vor, weil du dich nicht mehr für ein aufgezwungenes männliches Ideal verausgaben musst. So hast du mehr Energie frei, um sie für dich und deine Stärkung zu nutzen.
  • Ein unterstützendes Umfeld finden: Der Alltag als Hochsensibler kann mitunter sehr anstrengend sein. Wenn du dich zusätzlich in deinem Freundeskreis ständig wegen deiner hochsensiblen Art erklären oder gar verstellen musst, ist das enorm kräftezehrend. Deshalb darfst du dir Begleiter suchen und Beziehungen aufbauen, die dich ermutigen und wirklich unterstützen. Mit dieser inneren Stärke kannst du auch schwierige Situationen meistern, die zum Beispiel im Berufsleben auftauchen können.
  • Deine hochsensible Berufung ergründen: Auch wenn es im privaten Bereich schon ganz gut läuft, fällt es vielen hochsensiblen Männern schwer, in ihrem Job ihre Sensibilität offen zu zeigen oder gar ihre feinfühligen Fähigkeiten einzubringen. Um hochsensibel im Beruf glücklich zu werden und authentisch agieren zu können, ist es sehr hilfreich, wenn du deine eigenen hochsensiblen Kompetenzen ergründest und schaust, ob sie in deinem beruflichen Umfeld wertgeschätzt werden. Wenn nicht, kann auch eine berufliche Umorientierung sinnvoll sein.

Die Geschichte des hochsensiblen Mannes mitgestalten

Wenn du durch diese Schritte als hochsensibler Mann dein ganzes Potenzial ausschöpfen kannst, hat das auch eine starke Signalwirkung nach außen – vielleicht ermutigst du damit andere sensible Männer und Jungen, ihre feinsinnigen Eigenschaften und Fähigkeiten zu erforschen. Oder deine Freunde und Kollegen reflektieren ihre eigenen Rollenbilder und entdecken vielleicht ebenfalls schlummernde geniale Facetten an sich.

Auch Paul konnte durch diese Schritte die selbstbewusste Entscheidung treffen, sich ein berufliches Umfeld zu suchen, wo er seine hochsensiblen Fähigkeiten viel stärker einbringen konnte. Gleichzeitig schaffte er eine ausgeglichene Work-Life-Balance, wodurch er deutlich mehr Energie für sich selbst und Zeit für seine Familie gewann.

Die Geschichte des hochsensiblen Mannes ist noch nicht zuende geschrieben, ja im Grunde hat sie gerade erst begonnen. Es ist auch eine Geschichte der Befreiung von alten Rollenbildern sowie der Annäherung und Integration vermeintlicher »weiblicher« und »männlicher« Gegensätze. So können wir uns immer mehr als freie Individuen begegnen, die ihre ganz eigenen Wesensmerkmale, Talente und Fähigkeiten entfalten. Als hochsensible Männer können wir diese Geschichte wirkungsvoll mitgestalten.

Frage: Welche Probleme und Konflikte hast du als hochsenibler Mann erlebt? Wie konntest du sie lösen und lernen mit deiner Hochsensibilität gut umzugehen? Schreib deine Erfahrungen gern in die Kommentare.