Der berufliche Weg ist für viele hochsensible Menschen eine echte Herausforderung. Wir spüren einen tiefen inneren Drang viel zu geben und uns einzubringen. Doch in der Arbeitswelt scheint Hochsensibilität oft ein Hindernis zu sein. Wie können wir unsere hochsensiblen Eigenschaften und Fähigkeiten sinnvoll einsetzen, ohne überfordert oder unterfordert zu sein? Und worauf kommt es an, um hochsensibel im Beruf glücklich zu sein?

hochsensibel im Beruf

Im Zick-Zack-Kurs durch die Arbeitswelt

Als ich in das Arbeitsleben gestartet bin, haderte ich immer wieder mit drängenden Fragen: Was macht mich eigentlich glücklich? Welche Berufsfelder können für mich als Hochsensiblen sinnvoll sein? Was bedeutet überhaupt Erfolg für mich? Soll ich mich selbständig machen oder lieber angestellt sein? Was brauche ich, um hochsensibel im Beruf meinen eigenen Weg zu finden?

Getrieben von diesen Fragen probierte ich vieles aus, um endlich Antworten zu finden. Auf einer Landkarte würde mein beruflicher Werdegang viele verschlungene Wege mit sämtlichen Höhen und Tiefen nachzeichnen. Auch in den Gesprächen mit anderen hochsensiblen Menschen zeigte diese Landkarte ähnlich viele Wege und Umwege auf. 

Lange empfand ich diesen Zick-Zack-Kurs als Manko, denn uns wurde doch beigebracht möglichst geradlinig unseren Berufsweg einzuschlagen. Doch gerade als hochsensibler Mann war ich an dieser konkurrenzgetriebenen Karriereleiter nicht interessiert, die zu erklimmen von vielen Männern traditionell erwartet wird. Heute erkenne ich in meinen vielen Umwegen einen unermesslichen Schatz an Erfahrungen und Erkenntnissen, die mich leiten und mir immer wieder bewusst machen, was insbesondere hochsensible Menschen antreibt: eine Berufung zu finden, die aus unserer inneren Motivation entspringt. Dadurch erst spüren wir einen tieferen Sinn und fühlen uns in unserem Element. 

Um herauszufinden, wohin dein innerer Lebenssinn dich leiten möchte und wie du hochsensibel im Beruf glücklich wirst, kannst du dir zwei Grundlagen bewusst machen, auf die du bauen kannst: 

  1. Welche zentralen Fähigkeiten und Talente viele hochsensible Menschen aufgrund ihrer Veranlagung mitbringen.
  2. Welche Kriterien für Hochsensible essenziell sind, um diese Fähigkeiten einsetzen zu können und sich auf ihrem beruflichen Weg glücklich und lebendig zu fühlen.

Wenn diese Grundlagen mit Leben gefüllt sind, dann ist es in vielen Berufsfeldern möglich die hochsensiblen Potenziale zum Erblühen zu bringen. Für uns Hochsensible ist es nämlich nicht nur wichtig, was wir arbeiten, sondern vor allem wie und mit wem wir arbeiten. Dadurch können wir ausgeglichen und motiviert unsere berufliche Laufbahn gestalten. 

Schauen wir uns dafür zunächst die Grundlage der hochsensiblen Fähigkeiten an:

Geniale Talente für hochsensibles Arbeiten und ihre Schattenseiten

So wie jeder Mensch sind natürlich auch Hochsensible verschieden und tragen facettenreiche Fähigkeiten und Eigenheiten in sich. Aus meiner eigenen Erfahrung sowie vielen Gesprächen und Recherchen gibt es aber einige zentrale Grundeigenschaften und Potenziale, die die meisten hochsensiblen Menschen in sich vereinen. Dabei sind sich viele Hochsensible dieser wertvollen Fähigkeiten gar nicht richtig bewusst oder sehen sie ganz bescheiden als Selbstverständlichkeiten an, die doch nicht der Rede wert seien. 

Leider werden diese Fähigkeiten in der klassischen Arbeitswelt tatsächlich desöfteren nicht so gewürdigt, wie ihre enorm positive Wirkkraft es verdient hätte. Doch zum Glück gibt es seit einigen Jahren einen Wandel, unter anderem durch die visionären Ideen des New Work, wo emotionale, soziale und kommunikative Fähigkeiten als Grundvoraussetzung für gutes Arbeiten wertgeschätzt werden. Hochsensibel im Beruf zu wirken und sich auf feinfühlige Art zu engagieren wird dadurch enorm erleichtert.

Deshalb ist es so wichtig, diese hochsensiblen Talente selbstbewusst anzunehmen, auszubauen und einzusetzen. Dabei solltest du auch die Schattenseiten dieser Talente kennen, in die sich viele Hochsensible verstricken können. Es geht nicht darum, diese Schattenseiten zu bekämpfen, denn sie gehören zu den jeweiligen Fähigkeiten dazu. Wenn du sie dir bewusst machst, kannst du sie integrieren und einen sorgsamen Umgang für dich selbst entwickeln. 

Schauen wir uns die hochsensiblen Fähigkeiten mit ihren Licht- und Schattenseiten an:

Sorgfalt

Durch die intensive Reizverarbeitung nehmen hochsensible Menschen ihre Umwelt sehr viel detaillierter und feiner wahr. Dieser Genauigkeit und Detailverliebtheit entgeht auch bei besonders filigranen und vielschichtigen Aufgaben nichts. Mit viel Liebe und Sorgfalt wird jede Einzelheit so lange bearbeitet, bis alles rund ist. Daraus entwickeln Hochsensible eine enorme Gewissenhaftigkeit und ein tiefes Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Aufgaben, ihrem Arbeitsbereich und dem Team. 

Auf der Schattenseite kann diese Sorgfalt zu einer endlosen Perfektion ausarten, in die sich Hochsensible verstricken. Dabei halten sie dann tausend Details in der Hand und verlieren sich in Nebensächlichkeiten. Das führt unweigerlich zur Überforderung und Verausgabung. 

Für hochsensible Menschen ist es daher wichtig zu lernen, sich nicht ständig für alles und jeden verantwortlich zu fühlen, sonst geraten sie in eine Spirale der permanenten Aufopferung, Erschöpfung und Frustration. Aufgaben auch »unperfekt« abzuschließen, zu delegieren oder sich helfen zu lassen sind wirksame Maßnahmen zur Integrierung dieser Schattenseite.

Empathie

Aus der intensiven Sinneswahrnehmung entspringt auch die wundervolle Fähigkeit zur tiefgreifenden Empathie. Hochsensible können mit ihrer Feinfühligkeit die Stimmungen und Gefühle ihrer Kollegen aufnehmen und sind dadurch fähig, sich in den anderen hinein zu versetzen. In Gesprächen fällt es ihnen besonders leicht, die Welt mit den Augen ihres Gegenübers zu betrachten und vielfältige Perspektiven einzunehmen. Jede Führungskraft täte gut daran, auch nur einen Bruchteil dieser Fähigkeit bei sich selbst und im Team zu entwickeln.

Eine unabgegrenzte Empathie kann natürlich schnell zu Überreizung und Fremdwahrnehmung führen. Das Gefühl für den eigenen Standpunkt verschwimmt, wenn nicht mehr klar zwischen eigenen und fremden Stimmungen und Sichtweisen unterschieden werden kann. Dann fühlt sich ein empathischer Mensch in vielen sozialen Situationen schutzlos ausgeliefert und als emotionaler Spielball seiner Mitmenschen.

Um diese wacklige innere Unruhe auszugleichen, können Hochsensible eine wirksame Abgrenzung zwischen eigenen und fremden Gefühlen und Werten aufbauen, um einen empathischen Austausch aufzubauen, der auf Selbstsorge und Eigensinn basiert. 

Weisheit

Durch die tiefe Empathie, Sorgfalt und Detailverliebtheit entwickeln hochsensible Menschen meist sehr früh eine Tiefgründigkeit, die komplexe Zusammenhänge und versteckte Muster erkennen kann. Auf ganz natürliche Weise saugen Hochsensible viele Informationen auf und verarbeiten diese sehr gründlich. Das geschieht weniger auf pragmatische Weise, sondern vielmehr mit einer emotionalen Intelligenz (EQ), die das angesammelte Wissen mit einem empathischen Verständnis verknüpft. Deswegen wirken selbst junge Hochsensible oft wie »alte Seelen«, die bereits die milde Weisheit sehr erfahrener Menschen in sich tragen. 

Besonders wenn die eigene Empathie und emotionale Intelligenz nicht akzeptiert sondern bekämpft wird, kann diese hochsensible Weisheit zu starker Verkopftheit sowie permanentem Grübeln und Hadern führen. Das Gehirn ist dann auf der pragmatisch-rationalen Seite völlig überlastet, während die emotional-intuitive Seite immer mehr verkümmert. Dadurch droht eine enorme innere Schwere, Unbeweglichkeit und fehlende kindliche Spontaneität und Lebensfreude. 

Deshalb ist es so entscheidend, seine eigene Hochsensibilität und Empathie zu akzeptieren und als eine wunderbare Quelle emotionaler Intelligenz anzunehmen. Wenn das gelingt, können hochsensible Menschen ein tiefes Verständnis für sich selbst, die Menschen und die Welt entwickeln, das in jeder Hinsicht wertvoll und ausgleichend wirken kann. 

Intuition

Die hohe emotionale Intelligenz birgt noch eine weitere geniale Fähigkeit in sich: die Intuition. Viele Menschen verstehen darunter eine Art Bauchgefühl oder Eingebung, die uns leitet und den Weg zeigt. Tatsächlich entsteht eine starke Intuition durch die Art und Weise, wie unser Gehirn arbeitet – wie schon erwähnt, gibt es eine pragmatisch-rationale Seite (wo vorrangig die linke Gehirnhälfte aktiv ist) und eine emotional-intuitive Seite, wobei die rechte Gehirnhälfte angeregt ist. Hier schlummert eine spielerisch-kreative Genialität, die wir als Kinder oft genutzt haben, um alles um uns zu entdecken und zu verstehen. Leider wird diese Seite durch Erziehung, Schule und Beruf oft als unnütz abgelehnt und geht als wundervolle Ressource verloren. Gerade Hochsensible haben einen starken Zugang zu dieser emotional-intuitiven Seite und können dadurch ganz eigene kreative und visionäre Ideen und Impulse entwickeln. 

Auf der Schattenseite kann es hochsensiblen Menschen passieren, dass sie mit dem Kopf zu sehr in träumerisch-visionären Sphären schweben und dabei mit den Füßen nicht mehr auf solidem Boden stehen. Dann gibt es zwar ganz wundervolle Ideen und Vorhaben, aber die kleinen praktischen Schritte zum Ziel fallen schwer. Für manche Hochsensible wirkt der Alltag dann banal, beengt und frustrierend, weil alles nicht zauberhaft und schnell genug gehen kann. 

Die wunderbare Fähigkeit zur spielerischen Intuition und Vision kann nur dann gedeihen, wenn sie praktisch wirken kann. Wenn aus genialen Ideen auch realistische Ziele entstehen und der Weg dorthin umgesetzt werden kann, dann können Hochsensible mit ihrer Intuition wundervolle Veränderungen erschaffen.

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Loyalität

Wie bei der Sorgfalt und Empathie nehmen viele hochsensible Menschen ihre hohe Loyalität und Zuverlässigkeit gar nicht als geniale Fähigkeit wahr, sondern als selbstverständliche Grundvoraussetzung, um miteinander leben und arbeiten zu können. Dabei ist auch diese Eigenschaft von unschätzbarem Wert, nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im gesellschaftlichen Miteinander. Wenn Hochsensible von einer Sache überzeugt sind und sie als sinnvoll erleben, dann agieren sie vollkommen selbstlos und engagieren sich zu hundert Prozent dafür. Irgendwelche Ego-Spielchen, Winkelzüge oder intriganten Machenschaften liegen hochsensiblen Menschen fern, denn das würde ihrer Empathie, ideellen Vision und milden Weisheit völlig  zuwider laufen. Durch diese Vertrauenswürdigkeit und Selbstlosigkeit sind Hochsensible echte Teamplayer. Dabei ist ihnen Authentizität im Umgang miteinander besonders wichtig, und das leben sie auch vor.

Auch hier kann eine unbegrenzte und bedingungslose Loyalität zu einer immer größeren Aufopferung für eine Sache werden, bis hin zur Selbstaufgabe. Auch ein Missbrauch dieser Vertrauenswürdigkeit durch Einzelne oder das ganze Team kann für Hochsensible eine bittere Erfahrung sein. 

Deshalb ist es für hochsensible Menschen so wichtig, auf ihre Intuition, Weisheit und Empathie zu bauen, damit sie erkennen können, ob Anliegen, Ziele oder der Umgang im Team tatsächlich authentisch und sinnvoll sind, oder ob sie auf niederen Beweggründen Einzelner beruhen. In solchen Fällen ist eine wirksame Abgrenzung nötig, um die eigenen hochsensiblen Fähigkeiten und Bedürfnisse zu schützen. Im richtigen Umfeld wird Loyalität und Zuverlässigkeit als großer Wert erkannt und geschätzt. 

Mit deinen hochsensiblen Fähigkeiten zur Berufung

Nun hast du zentrale hochsensible Fähigkeiten kennengelernt, die nicht nur auf deinem Berufsweg wundervoll wirken können. Vielleicht erkennst du dabei auch deine eigenen Schattenseiten wieder. Dann möchte ich dir einen Rat geben: Versuche nicht, sie durch überambitionierte Leistungen auszugleichen, sondern sie als Teil deiner wunderbaren Fähigkeiten zu akzeptieren. Es gibt bei vielen Hochsensiblen eine erlernte Überzeugung, die eigene Sensibilität und Emotionalität als Schwäche anzusehen, die durch überzogene Leistung, Verantwortung und Gewissenhaftigkeit ausgeglichen werden müsste. Dabei sind es gerade die Fähigkeiten zu tiefen Gefühlen, Empathie, Vertrauenswürdigkeit und spielerischer Intuition, die einen großen Wert ausmachen. 

Wenn du die dazugehörigen Schattenseiten bewusst annimmst, kannst du deine Überzeugungen und dein Verhalten dabei beobachten und so anpassen, dass du deine hochsensiblen Potenziale zum Erblühen bringst. Doch wie kannst du diese Fähigkeiten auf deinem Weg zur echten Berufung einsetzen? Und was brauchst du dafür? Schauen wir uns dafür die zweite Grundlage an: Welche Kriterien für Hochsensible essenziell sind, um ihren eigenen beruflichen Weg zu gestalten.

Sinn & Bedeutung

Aufgrund der intensiven Reizverarbeitung und daraus entwickelten Tiefgründigkeit suchen Hochsensible immer nach einem tieferen Sinn und einer Bedeutung, auch in alltäglichen Situationen. Deshalb drängt es sie auch auf dem beruflichen Weg nach einem sinnerfüllten Schaffen. Einfach nur Dienst nach Vorschrift machen oder ständiges Abarbeiten von als sinnlos empfundenen Aufgaben hält keine hochsensible Seele lange aus. 

Im Grunde ist das Kriterium »Sinn & Bedeutung« für alle Menschen wichtig. Schon Aristoteles erkannte, dass Glück und Ausgeglichenheit sich dann einstellen, wenn ein Mensch seine Potenziale entfalten kann – erst dann entstehe ein tiefer Sinn. Der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl hat in der Logotherapie das sogenannte Frankl-Kreuz entwickelt: auf der vertikalen Achse befindet sich die »Sinndimension«, die unten von »Sinnleere« nach oben zu »Sinnentfaltung« führt. Auf der horizontalen Achse verläuft die »Erfolgsdimension«, die links bei »erfolglos« beginnt und rechts bei «erfolgreich« endet. Diese Erfolgsachse bezieht sich laut Frankl auf äußere Kriterien, die nicht aus dem Herzen kommen, wie Status, Macht oder Geld. Dabei stellte er fest, dass sich der äußere Erfolg für Menschen hohl und leer anfühlt, wenn die innere Sinndimension unberücksichtigt bleibt.

Frankl Kreuz

Gerade für Hochsensible sind diese äußeren Motivatoren wie Status und Macht keine sinnerfüllenden Kriterien, um sich hochsensibel im Beruf verwirklichen zu können. Natürlich möchten auch wir ein sozial abgesichertes Leben führen, aber unser Erfolg basiert weniger auf materiellen als auf ideellen Werten, wie sinnvolles Wirken, authentische Verbindung und tiefgreifendes Erleben. Diese Werte verwirklichst du am besten, indem du deiner inneren Motivation nachgehst. Womit wir direkt zum zweiten Kriterium kommen:

Freiheit & Autonomie

Die innere (oder intrinsische) Motivation ist die einzige »Autorität«, die hochsensible Menschen wirklich anerkennen – oder anerkennen sollten, wenn es um ihren persönlichen Weg geht. Denn das ist gar nicht so einfach, wenn von allen Seiten der beschriebene äußere Erfolgsdruck auf uns einprasselt. Hermann Hesse hat diesen schmerzhaften Zwiespalt wundervoll im Roman »Demian« ausgedrückt: »Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, was von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?«

Der Psychoanalytiker Arno Gruen gibt darauf in seinen gesellschaftskritischen Büchern eine treffende Antwort, die wie ein Plädoyer für hochsensible Fähigkeiten klingt: Er beschreibt, wie wir von Geburt an beigebracht bekommen, gefälligst nicht auf unsere eigene Wahrnehmung und Gefühle zu hören, sondern uns anzupassen an den »Common Sense«, der vorschreibt, was an Erleben und Empfinden gesellschaftlich annehmbar ist. Das führt zum Beispiel dazu, dass wir in einem Teammeeting zwar in verkrampft lächelnde Gesichter schauen, aber gleichzeitig spüren, dass es unter der Oberfläche brodelt. Diese Wahrnehmung auszudrücken und auch nach ihr zu handeln, wäre der authentische Umgang – doch dies würde nicht dem erlernten Common Sense entsprechen, der von uns verlangt, diese Dinge zu »übersehen« und mitzuspielen. Dadurch müssen wir unsere eigene Wahrnehmung und Autonomie immer weiter reduzieren und sie abhängig von äußeren Ansichten und Werten machen.

Für die hochsensible Wahrnehmung und feine Gefühlswelt stellt diese äußere Forderung eine besonders schmerzhafte Zumutung dar. Deshalb ist es so wichtig, dich aus dieser verstrickten Abhängigkeit heraus zu entwickeln, hin zu deiner persönlichen Freiheit. Das bedeutet: keine Unterwerfung unter sinnlose Hierarchien sowie Ziele oder Vereinbarungen, die deiner intrinsischen Motivation und deinen hochsensiblen Fähigkeiten zuwider laufen. Auch sämtliche Verstrickungen in gesellschaftliche Machenschaften wie Konkurrenzkampf, Statusdruck oder intrigantes Ego-Gehabe solltest du unbedingt lösen oder von Anfang an vermeiden. Dann kannst du deine Energie für das einsetzen, was dich im Innern antreibt und erfüllt. Wenn du dabei auf deine hochsensible Wahrnehmung vertraust, wird sie dich auf deinem Weg leiten. 

Authentizität & Eigensinn

Dieses Kriterium ist eng mit der persönlichen Freiheit verbunden, denn wenn du deiner inneren Motivation nachgehst, wirst du immer mehr »das Eigene« entdecken und kultivieren. Auch dafür spricht uns Hermann Hesse Mut zu: »Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn.« Auf andere mag das wie verschrobene Eigenbrötlerei wirken, doch Hochsensible möchten einfach ihrer Intuition folgen, und dabei ihre ganz eigenen Ideen und Ideale verwirklichen. Dafür brauchen sie viel Raum und Zeit für sich, um in aller Seelenruhe zu tüfteln und zu werkeln. 

So entsteht langsam aber sicher ein authentisches Schaffen und Wirken: auf deinem eigenen Weg, deiner gewählten Richtung, in deinem Tempo, deiner Intensität und deiner persönlichen Art. Du kannst dabei am besten mit Menschen zusammenarbeiten, die dir vorbehaltlos diesen Raum geben und für sich selbst auch diese Arbeitsweise wählen. Dazu gehört auch, dann Pause zu machen und auszuruhen, wenn du es brauchst, egal wie sehr andere angeblich weiter durchhalten können. Nur du kannst für dich selbst herausfinden, wann, wie und wodurch du Kraft und Motivation zum Machen und Erschaffen findest, und wann du dir Inseln des Entspannens und Genießens gönnst. Wenn diese Wellen aus Anspannung und Entspannung in einer stimmigen Balance sind, dann kann das Arbeiten ein wahrer Genuss sein.

Verbindung & Austausch

Viele hochsensible Menschen empfinden in sich ein Spannungsfeld: das Streben nach persönlicher Freiheit einerseits und dem Wunsch nach echter Verbindung andererseits. Denn auch wenn wir frei nach unserem Eigenen suchen möchten, und uns dafür manchmal abgrenzen und in Ruhe gelassen werden müssen – wir sind soziale Wesen und echte Lebendigkeit entsteht erst dann, wenn wir interagieren und uns austauschen. Dieses Spannungsfeld aus den zwei Grundbedürfnissen erleben alle Menschen in unterschiedlicher Ausprägung. In der Psychologie spricht man dabei vom psychologischen Grundkonflikt, oder anschaulicher vom Zugehörigkeits-Selbstbestimmungs-Konflikt.

Natürlich ist es mitunter nötig, dass du dich erstmal zurückziehst, um für dich herauszufinden, wer du bist und was du brauchst. Deshalb sind die ersten drei Kriterien so entscheidend und brauchen ihren Raum und ihre Zeit. Doch als hochsensibler Mensch ist in dir auch die Empathie angelegt, und mit ihr der Wunsch deine hochsensiblen Fähigkeiten einzusetzen, um andere zu unterstützen, sie zu begleiten, ihr Leben in irgendeiner Form besser zu machen. Erst wenn deine innere Motivation im Austausch mit anderen eine Resonanz erfährt, wird sich dein Schaffen lebendig anfühlen. Dann wirst du auch echte persönliche Freiheit empfinden, wenn deine zwischenmenschlichen Verbindungen auf Vertrauen und authentischem Austausch gründen. 

Auf der beruflichen Ebene bedeutet das: nutze deine hochsensiblen Fähigkeiten, um authentische Angebote an die Welt zu machen und echten (Mehr-)Wert für die Menschen zu erzeugen. Such dir dafür ein Umfeld, wo deine tiefgründige, sorgfältige, empathische und loyale Art wertgeschätzt und auch an dich zurückgegeben wird. 

Berufsfelder für Hochsensible

Mit dem Bewusstsein für deine hochsensiblen Fähigkeiten und den nötigen Kriterien für ein glückliches Arbeiten bist du nun gewappnet für deinen eigenen beruflichen Weg. Natürlich wird es immer wieder auch Phasen oder äußere Notwendigkeiten geben, in denen du Abstriche dabei machen musst. Aber auf lange Sicht wird es dir unglaubliche Möglichkeiten eröffnen, wenn du diese zwei Grundlagen beherzigst und immer weiter verwirklichst. Dann kannst du deine hochsensiblen Potenziale zum Erblühen bringen und dich in deinem Element fühlen. 

Damit ist es theoretisch in jedem Berufsfeld möglich, einen für dich stimmigen Weg zu finden. Manchmal sind es kleine Nischen eines Berufszweiges, die für hochsensible Menschen geeignet sind. Auch hier zeigt sich wieder, wie hilfreich es ist, wenn du dich ausprobierst und vielfältige Erfahrungen sammelst. 

Die hochsensiblen Fähigkeiten und Kriterien legen natürlich manche Berufsfelder nahe, in denen sie einfacher zu verwirklichen sind. Deine hochsensible Intuition und visionären Ideen wirst du in vielen künstlerisch-kreativen Berufen sehr gut entwickeln können. In sämtlichen Forschungs- und Wissenschaftsbereichen kannst du dazu auch deine Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit sehr gut einsetzen. Genau diese Fähigkeit braucht es auch für die Arbeit in Archiven, Bibliotheken oder historischen Feldern sowie für (kunst-)handwerkliche Tätigkeiten. Die hochsensible Empathie und milde Weisheit ist in allen sozialen, pädagogischen und psychologischen Berufen von unschätzbarem Wert, sowie für jede Arbeit, die Menschen begleitet, unterstützt oder berät. Hier ist besonders die Loyalität und Vertrauenswürdigkeit unverzichtbar.

Für mich zeichnete die Begegnung mit einem Steinmetz das Bild eines geglückten hochsensiblen Schaffens eindrucksvoll nach: Er erschuf Grabsteine, die das Leben und Wirken des Verstorbenen symbolisieren. Wenn er sich mit den Angehörigen traf, um die Gestaltung des Steins zu besprechen, ging er unglaublich behutsam und wertschätzend vor. Dabei hatte er wundervolle Ideen für den persönlichen Grabstein, die er empathisch mit den Vorstellungen der Angehörigen verband. Dafür schöpfte er aus seiner vielfältigen Lebenserfahrung und vertraute auf seine kreative Intuition. Dann werkelte er stundenlang am Grabstein und schenkte ihm seine liebevolle Aufmerksamkeit, ganz vertieft in jedes kleinste Detail und mit einer zeitlosen Seelenruhe. Wenn er den fertigen Stein präsentierte, erfüllten ihn die berührenden Reaktionen der Angehörigen mit einem tiefen Sinn, denn er hatte zu ihrer Familiengeschichte etwas Wertvolles beigetragen. Gleichzeitig entdeckte er mit jedem individuellen Schicksal auch etwas Neues über sich selbst und das Leben. Er fühlte sich berufen. 

Hochsensibel im Beruf – selbständig oder angestellt?

Diese Frage treibt viele hochsensible Menschen um, besonders wenn sie sich die zwei Grundlagen bewusst gemacht haben. Denn sie verdeutlichen, was Hochsensible oft schon unbewusst spüren: in der klassischen Arbeitswelt sind diese Kriterien als Angestellter kaum zu verwirklichen. 

Fangen wir deshalb mit einem kleinen Gedankenspiel an: stellen wir uns eine Welt und Gesellschaft vor, in der wir von Anfang an ermutigt werden, unsere eigene Wahrnehmung und somit unsere Bedürfnisse und Gefühle ernstzunehmen und nach ihnen zu handeln. Wir wachsen in einem Umfeld auf, das hochsensible Fähigkeiten nicht nur akzeptiert, sondern sie auch aktiv fördert. Somit könnten wir all unsere schlummernden Potenziale auf ganz natürliche Weise entfalten und für unser Leben und Arbeiten sinnvoll einsetzen. In so einer Welt dürften wohl sehr viele Hochsensible den Mut, die Kraft und die Zuversicht in »das Eigene« entwickeln, um selbständig tätig zu sein. 

Denn dafür braucht es einen bewussten und akzeptierenden Umgang mit der eigenen Hochsensibilität sowie wirksame Werkzeuge für schwierige und überfordernde Situationen. Besonders die Fähigkeiten zur wirksamen Abgrenzung und zum entspannten Genießen sind dafür von enormer Bedeutung. Leider tragen viele hochsensible Menschen aus ihrer Erziehung und ihren Erfahrungen viele negative Glaubenssätze mit in ihr weiteres Leben, die sie an ihren hochsensiblen Fähigkeiten fortwährend zweifeln lassen. Solange diese Überzeugungen wirken, ist der Zugang zu den eigenen Potenzialen blockiert. Dann fällt es sehr schwer auf seine eigene Intuition zu vertrauen und mit ihr die Herausforderungen der Selbständigkeit und der Arbeitswelt allgemein anzugehen.

Doch zum Glück wandelt sich auch die Arbeitswelt für Angestellte: Die hochsensiblen Fähigkeiten – im Businessbereich gern »Soft Skills« genannt – gewinnen immer mehr an Bedeutung. Durch die Impulse der New Work-Bewegung entstehen in modernen Unternehmen Ideen und Strukturen, die ein selbständiges, authentisches und sinnzentriertes Arbeiten ermöglichen. In seinem Buch »Reinventing Organizations« beschreibt der Wirtschaftsphilosoph Frédéric Laloux eindrucksvoll, wie manche Betriebe das bereits erfolgreich umsetzen: zum Beispiel wird für wichtige Entscheidungen ein wirkungsvoller Beratungsprozess angewandt, der alle Beteiligten involviert. Dabei kann auf eine Management-Ebene verzichtet werden, weil die Eigenverantwortung und Selbstinitiative aller Mitarbeiter gefördert wird, während sie Selbstwirksamkeit und Veränderungskompetenz erleben. Außerdem wird ein »integrales Arbeiten« ermöglicht, wo man sich nicht mehr hinter einer professionellen Maske verstecken muss, sondern all seine Facetten und Potenziale einbringen kann. In solch einem Umfeld werden die klassischen Grenzen zwischen angestellt und selbständig arbeiten aufgelöst, und die Kriterien für ein geglücktes hochsensibles Arbeiten können verwirklicht werden. 

Die Philosophie der hochsensiblen Berufung

Ich möchte gern noch einen philosophischen Gedanken mit dir teilen: der Weg von intuitiven und hochsensiblen Menschen ist nicht geradlinig, sondern spiralförmig. Wir umkreisen unsere Träume und Wünsche immer wieder auf einer neuen Ebene, bis sie zu einem Weg mit einem kraftvollen Ziel werden. Das braucht Zeit, Ruhe und eine intuitive Zuversicht. Deshalb sind viele Umwege und Versuche keine Fehler, sondern wir lernen das ganze Terrain kennen und entwickeln die Erfahrung und Weisheit, um unsere hochsensiblen Fähigkeiten mit den richtigen Kriterien voll einsetzen zu können. 

Manchmal wirst du aufgrund deiner hochsensiblen Veranlagung das Gefühl haben, dein Umfeld und die Umstände sind einfach nicht dafür gemacht, dich frei zu entfalten. Mache dir in solchen Momenten bewusst, dass deine hochsensiblen Fähigkeiten zusammen mit den Kriterien dein Fixstern sind, nach dem du dich immer richten kannst. 

Dieser Fixstern wirft sein Licht auf unsere hochsensible Berufung: unser Potenzial zu nutzen, um Wahres, Schönes und Gutes zu erschaffen. Das ist unsere eigentliche Aufgabe. Dabei geht es nicht um bahnbrechende Erfindungen oder großspurige Entwürfe, sondern zuerst um die kleinen Schritte im Alltag. Wenn wir im Kleinen mit unserem ganzen Wesen wirken können, entstehen die großen Veränderungen von ganz allein.

Frage: Wie setzt du deine hochsensiblen Fähigkeiten ein? Welche Erfahrungen hast du dabei auf deinem beruflichen Weg gemacht? Teile deine Erkenntnisse gern unten in den Kommentaren mit.